Ein Gastbeitrag meines studentischen Praktikanten Jerome Neuenstein

Am 17. Mai 2018 war es soweit: Die EU-Kommission reichte wegen Missachtung der EU-Grenzwerte für Stickoxide Klage gegen Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof ein. Der seit 2008 geltende Grenzwert von 40 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter Luft wurde allein im Jahr 2017 in 66 Städten in Deutschland nicht eingehalten. Der Bundesrepublik droht nun eine hohe Geldbuße, die auf Milliardenhöhe anwachsen kann.

Hauptverursacher der hohen Stickoxid-Werte in deutschen Städten ist der Straßenverkehr und hier insbesondere der Dieselmotor: Auf ihn sollen rund drei Viertel der Stickstoffdioxid-Last des Verkehrs zurückgehen.

Seit Monaten wird daher in der deutschen Öffentlichkeit und Politik über Fahrverbote für Diesel-PKW und Hardware-Nachrüstungen diskutiert. In Hamburg haben sie dabei bereits Ernst gemacht: Ab 31. Mai gilt dort ein Fahrverbot auf zwei Straßenabschnitten für ältere Diesel und Lastwagen. In Nordrhein-Westfalen hingegen sind sich alle Parteien einig. Fahrverbote gelten dort als Ultima Ratio und sollen möglichst vermieden werden. Damit wissen sie sich im Einklang mit der Bundesregierung.

Doch die Diskussion über Fahrverbote und Hardware-Nachrüstungen kratzt nur an der Oberfläche einer endlich intensiver zu führenden, breiteren Diskussion über politische Maßnahmen hin zu einer echten Verkehrswende in unseren Städten. Diese ist schließlich unausweichlich geworden. Die Politik ist hier gefordert und sollte die Klage der EU-Kommission zum Anlass nehmen, endlich eine echte Verkehrswende in unseren Städten voranzubringen.

Hierbei geht es letztlich nicht nur um die durch Stickoxide und Feinstaub belastete, schlechte Luft mit ihren gesundheitsschädlichen Folgen für die Menschen in der Stadt. Die Verkehrswende ist auch die logische Antwort auf zunehmende Staus, immer größer werdenden Raummangel und die Jahr für Jahr Tausenden von Verkehrstoten in deutschen Städten. Auch vor dem Hintergrund des Klimawandels ist die Verkehrswende dringend geboten. Der Verkehrssektor ist mittlerweile der einzige Sektor, indem der CO2-Ausstoß gegenüber 1990 nicht gesenkt worden ist. Sollen die Pariser Klimaziele erreicht und der zur deren Umsetzung ausgearbeitete Klimaschutzplan 2050 der Bundesregierung eingehalten werden, führt kein Weg an einer Verkehrswende vorbei. Auch der Verkehrssektor muss endlich seinen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Eine Verkehrswende in den Städten eröffnet zudem auch die Chance, den Lärm deutlich zu reduzieren. Das würde die Menschen den Tag über stressfreier leben und sie in der Nacht besser schlafen lassen. Ein weiterer Zugewinn für die Gesundheit eines jeden Einzelnen.

Wie jedoch sieht eine solche nachhaltige Verkehrswende aus?

Im Kern geht es um die mittel- bis langfristige Verdrängung des Autos aus der Stadt. Die jahrzehntelange politische Förderung von Automobilen bei gleichzeitiger Vernachlässigung von anderen Verkehrsmitteln muss endlich aufhören. Umweltschädliche Subventionen wie das Dieselsteuer- oder das Dienstwagenprivileg gehören sofort gestrichen. Die private Nutzung von öffentlichem Raum durch Autofahrer*innen muss deutlich teurer werden. Der durch PKWs in großen Städten blockierte Platz, fehlt für Parks, Fahrradwege, breite Fußgängermöglichkeiten und Wohnungsneubauten. Autofahren verursacht dabei den Städten immense externe Kosten; also Kosten, die von den Verkehrsteilnehmer*innen nicht getragen werden, aber real anfallen, wie z.B. Kosten für Unfälle, Lärm, Luftbelastung und Klimaschäden. Verkehrswissenschaftler*innen der Universität Kassel bieten mittlerweile ein Tool für die kommunalen Verwaltungen an, mit deren Hilfe sich die externen Kosten eines jeden Verkehrsmittels berechnen lassen. Für die Stadt Kassel beispielsweise betragen diese für den PKW-Verkehr 57,5 Millionen Euro im Jahr. Das entspricht bei einer Einwohnerzahl von fast 200.000 jährlichen, externen Kosten von 287,50 Euro pro Einwohner. Demgegenüber stehen externe Kosten von lediglich 3,5 Millionen Euro im Jahr für den ÖPNV (17,50 Euro pro Einwohner im Jahr). Bei der Betrachtung aller real anfallenden Gesamtkosten (externe Kosten + öffentlicher Zuschussbedarf) wird somit schnell deutlich, welche hohen Kosten das Autofahren in den Städten tatsächlich verursacht und wieviel günstiger im Vergleich dagegen doch der vermeintlich so teure ÖPNV ist. In unserem Beispiel der Stadt Kassel stehen letztlich 83,5 Millionen Euro im Jahr an Gesamtkosten für das Autofahren lediglich 32,5 Millionen Euro an jährlichen Gesamtkosten für den ÖPNV gegenüber.

An die Stelle der Privilegierung des Autoverkehrs muss im Rahmen der Verkehrswende ein massiver Ausbau des ÖPNV treten. Die öffentlichen Verkehrssysteme müssen dabei vernetzt und digitalisiert werden. Damit der öffentliche Nahverkehr zu einer echten Alternative werden kann, muss vor allem das Bahnnetz ausgebaut werden. Es bedarf grundsätzlich mehr Linien und einer engeren Taktung. Kurzfristig müssen die Dieselbus-Flotten auf Euro 6 umgerüstet werden. Ein Dieselbus stößt immerhin weniger Stickoxide aus als ein Diesel-PKW. Mittel- bis langfristig darf es jedoch nur noch Elektrobusse oder Busse mit alternativen Antrieben wie Wasserstoff geben. An den ÖVPN-Stationen und Knotenpunkten an den Stadtgrenzen müssen darüber hinaus ausreichend PKW-Parkplätze bzw. Park & Ride-Stationen entstehen, damit die Menschen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in die Stadt gelangen können und ihre Autos außerhalb der Stadt bleiben.

Der massive Ausbau des ÖPNV bedarf dabei großer finanzieller Mittel. Die finanzielle Hauptlast des ÖPNV tragen bisher die Kommunen, wobei die Defizite der Verkehrsunternehmen bisher in der Regel durch Überschüsse aus kommunalen Unternehmen ausgeglichen werden. Hier müssen Bund und Länder vielmehr finanzielle Unterstützung leisten. Das Gemeindefinanzierungsgesetz (GVFG) ist seit 1996 unverändert. Der Bund finanziert hier jährlich 330 Millionen Euro in den ÖPNV. Im Koalitionsvertrag der Großen Koalition steht, dass diese Mittel auf eine Milliarde erhöht werden sollen. Leider erst am Ende der Legislaturperiode, aber immerhin, es ist ein Anfang, der aber bei weitem noch nicht ausreicht. Der Bund ist hier gefordert deutlich mehr finanzielle Mittel in die Hand zu nehmen. Auch das aufgelegte Sofortprogramm „Saubere Luft 2017-2020“ zur Verbesserung der Luftqualität ist ein erster Schritt, reicht aber ebenfalls bei weitem noch nicht aus, um die notwendige Modernisierung und den massiven Ausbau des ÖPNV zu bewirken. Auch die Länder müssen die Städte beim Ausbau des ÖPNVs deutlich stärker unterstützen als dies bisher der Fall ist.

Neben dem Ausbau des ÖPNV muss im Rahmen der Verkehrswende eine gute Fahrradinfrastruktur geschaffen werden. In der Stadt der Zukunft sollte aktive Mobilität (Fahrrad und Zufußgehen) eine viele größere Rolle einnehmen, gar zur Basismobilität werden. Hierzu braucht es neben breiten Fußgängerwegen vernünftige Fahrradwege und gute Fahrrad-Abstellplätze, gerade auch für Pedelecs. Fahrräder müssen schließlich sicher abgestellt werden können. Viele Wege innerhalb Stadt sind unter 5 km lang und dadurch eigentlich ideal für das Radfahren. Viele Menschen trauen sich jedoch nicht, weil sie sich oftmals zum einen beim Radfahren nicht sicher fühlen und zum anderen ihr Fahrrad zu selten sicher abstellen können. Hier liegt viel Potenzial brach. Durch Pedelecs kommen zudem auch größere Distanzen für das Radfahren in Frage. Die Anschaffung von Pedelecs sollte durch die Politik, wie beispielsweise schon in Oslo erfolgreich betrieben, finanziell gefördert werden. Zur Schaffung einer guten Fahrradinfrastruktur gehören des Weiteren auch der Ausbau von Ride-Sharing und die Bereitstellung von sogenannten Lastenrädern. Insgesamt sollte außerdem die Wertschätzung gegenüber Radfahrer*innen in der Stadt erhöht werden. Städte wie Kopenhagen machen es uns bereits vor, wie dies auch schon durch kleine Veränderungen bewirkt werden kann. So werden in Kopenhagen beispielsweise im Winter die Radwege vor den Autospuren geräumt. Zudem sind vor vielen Ampeln Haltebügel für Radfahrer*innen angebracht worden.

Eine nachhaltige Verkehrswende in unseren Städten bietet letztlich viele Chancen. Sie ist die Antwort auf schlechte Luft, Lärm, zunehmende Staus, immer größer werdenden Raummangel und die jährlich vielen Tausenden von Verkehrstoten. Sie trägt zum Klimaschutz und zur Schonung von wertvollen Ressourcen wie Erdöl bei. Die Verkehrswende ist die Hoffnung auf ein gesünderes und lebenswerteres Leben in der Stadt. Die Politik sollte daher die Klage der EU-Kommission zum Anlass nehmen, endlich eine nachhaltige Verkehrswende in unseren Städten voranzubringen. Laut einer repräsentativen Befragung der KfW aus dem November 2017 halten 81 Prozent der Bevölkerung eine Verkehrswende für nötig. Die Unterstützung der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung für eine nachhaltige Verkehrswende ist der Politik also schon gewiss. Jetzt liegt es an ihr, sie endlich auf den Weg zu bringen. Es ist längst an der Zeit.