Die Ausgangslage

Der Pisa-Schock hat tief gesessen. Mit Blick auf die skandinavischen Länder, welche traditionellerweise im Bildungswesen weit vor Deutschland stehen und schon seit langer Zeit einen gymnasialen Schulabschluss nach acht Jahren bevorzugen, wurde in relativ kurzer Zeit ein Schuljahr zur Allgemeinen Hochschulreife weggekürzt. In NRW ist dies sei 2005 der Fall – Der erste Abiturjahrgang nach acht Jahren hat demnach 2012 seinen Abschluss gemacht. Wider der Erwartung, dass die Stimmen gegen G8 mit der Zeit leiser werden, wird das Thema bis heute kontrovers diskutiert. Erst vor Kurzem wurden die Wünsche nach einer Reform so zahlreich, dass Bildungsministerin Löhrmann einen runden

Tisch (bestehend aus Bildungsexperten) in der Staatskanzlei zusammenrief, um das Modell zu diskutieren. Ergebnisse werden im Herbst erwartet.1 Was feststeht: Ein Abschaffen ist nicht gewünscht; Reformen steht man offen gegenüber.

Bildungsökonomie

Die Bildungsforscherin der Universität Duisburg-Essen Isabell von Ackeren kritisiert an G8, dass es hauptsächlich darum ginge, jüngere statt besser gebildete AbsolventInnen zu generieren. Ein früherer Wechsel aus dem Bildungswesen in die Erwerbstätigkeit erscheint sinnvoll, gerade in Hinblick auf die Rentenkassen und den demographischen Wandel. Dass dies die eigentliche Intention der Bildungsreform ist, lässt sich auch mit Blick auf den Wegfall der Wehrpflicht bestätigen. Nicht nur um einen Rückgang der Bildungsqualität und der Ergebnisse sorgt sich Klaus Klemm, Professor für Bildungsforschung und Bildungsplanung. Dass „Bildungsökonomie“ jedoch zu Lasten der Bildungsqualität geht, wirke sich auf die Studierfähigkeiten der jüngeren AbiturientInnen aus. Aufgrund des erheblichen Zeitdrucks wird der Stoff nur noch „auswendig gepaukt“, statt tatsächlich verstanden.2

Die Methodik, in verkürzter Schulzeit die selben Inhalte zu lehren lässt schlussfolgern, dass eine pädagogische Reform nicht stattgefunden hat. Die Lehrer standen und stehen teilweise noch immer vor der Herausforderung, selbstständig ihren Unterricht zu „entschlacken“ und effizienter zu gestalten. Dies führt teilweise zu Überforderung und Stress bei denen, welche in ihrem Studium nicht auf eine verkürzte Lehrzeit vorbereitet wurden und sich schon in der neunjährigen Unterrichtszeit schwer taten. Nicht selten wird der von Lehrerseite produzierte Stress an die Schüler weitergegeben.

Keine Zeit zum Erwachsenwerden – Abitur macht krank

Dass der hohe Zeitdruck die SchülerInnen belastet, merken nicht nur Musikschulen und Sportvereine, sondern wirkt sich auch auf die Gesundheit aus.

Eine neurologische Studie untersuchte den Zusammenhang der verkürzten Gymnasialzeit mit Kopfschmerzen und gesundheitlichen Belastungen. Das Ergebnis ist zwar gesundheitlich betrachtet besorgniserregenden, lässt jedoch keinen signifikanten Unterschied von G8 und G9-Jahrgängen erkennen. So leiden 83% aller Schüler mindestens einmal im Monat an Kopfschmerzen und fast die Hälfte der Befragten an Kreuz- oder Rückenschmerzen, einem übermäßigem Schlafbedürfnis und/oder Nacken- und Schulterschmerzen – unabhängig von der Regelschulzeit.3 Es lässt sich also insgesamt sagen, dass die schulische Beanspruchung zu einem (bei 20% der SchülerInnen chronischen) Stresserleben führt und durch die Verkürzung der Freizeit bei G8-SchülerInnen nur weiter geschürt wird. Als Fazit der Studie wird der beschränkte Zeitraum für Freizeitgestaltung, statt einer gesundheitlichen Beeinträchtigung durch G8 problematisch gesehen.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die Freizeitaktivitäten mit steigender Belastung aus der Schule nicht zurückgefahren werden. Denn ein fehlender Ausgleich ist deutlich unbekömmlicher, als der Vorbereitung für die Schule erst zu späterer Stunde nachzugehen. Dass dies zu einem Konflikt mit der Konzentrationsfähigkeit am folgenden Tag führt ist voraussehbar, aber unvermeidbar.

Ein Jahr mehr = bessere Leistung = bessere Noten?

Die aufgeworfene Frage nach der Bildungsqualität lässt sich schwer überprüfen – Die Noten jedoch schon.

80% der Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder auf eine G9-Schule gehen können.4 Sie versprechen sich dadurch bessere Noten und mehr Freiraum zur Freizeitgestaltung für ihre Kinder. Dass besonders die erste Sorge unberechtigt ist, lässt sich der vom Bildungsministerium veröffentlichten Abschlussbilanz zum Zentralabitur 2013 in NRW entnehmen. Ministerin Löhrmann sieht weiterhin „einen Trend zu besseren Noten und keinen großen Unterschied zwischen G8 und G9“. Das lässt sich schlecht verleugnen: Der Abiturschnitt hat sich 2012 bis 2013 von 2,5 auf 2,46 verbessert. Die G8- AbiturientInnen haben mit 2,41 sogar einen etwas besseren Schnitt als die G9- AbiturientInnen (2,44). Warum also die Möglichkeit, das Abitur in neun Jahren zu machen, noch weiter erhalten?

Uwe Lämmel, Vorsitzender der Fachgruppe Gymnasium GEW NRW bemängelt diese G9- Schulen. Denn im Wesentlichen unterscheiden sie sich kaum von G8-Schulen: Das vorzeitige Eintreten der zweiten Fremdsprache ist in beiden Modellen in der 6. Klasse, das zweite Wahlpflichtfach in der 8. So bleibt es bei einer übermäßig starken Beanspruchung der SchülerInnen während der Pubertät. Als größeres Problem sieht Lämmel jedoch, dass nun mit Themen konfrontiert wird, welche „häufig nicht mehr zum Abstraktionsvermögen der jungen SchülerInnen“ passen.5

 

Diese Problematik sehen wohl viele Schulen und haben sie auf einfachste Art und Weise gelöst: Die Leiterin einer Frankfurter Schule, Karin Hechler, hat die Noten und Notengebung an ihrer Schule tiefgreifend untersucht. Sie ist zum Ergebnis gekommen, dass die Noten bei G8 und G9 gleich und bei G8 tendenziell besser sind (was sich mit der Abschlussbilanz des Bildungsministeriums NRW deckt), jedoch für die gleiche Leistung G8-SchülerInnen bessere Noten als G9-SchülerInnen erhalten. Die Befürchtung, dass die Bildungsqualität unter G8 leidet, scheint demnach begründet zu sein, genau wie die mangelnde Studierfähigkeit.

Fazit

Für mich lässt sich die G8-Zeit so zusammenfassen: „Ausreichend Schlaf, gute Noten, Sozialleben – Nimm zwei!“. Aber ehrlich gesagt bin ich nicht davon überzeugt, dass ein weiteres Jahr daran viel geändert hätte. Vielmehr sehe ich es positiv, dass ich gewissermaßen dazu gezwungen wurde, mein Selbstmanagement aufzubauen und die Vorbereitung auf Klausuren, das Abitur und Präsentationen weitgehend selbstständig zu bewältigen. Denn gerade das ist eine ideale Vorbereitung auf das Studium oder Berufsleben. Dass diese Phase mit viel Stress verbunden ist, sollte eigentlich nicht verwundern, schließlich ist man doch auf dem Weg, den höchsten Bildungsabschluss des Landes zu erlangen.

Mich stören äußere Faktoren, die den Druck auf einen als Schüler künstlich erhöhen. Das sind zum einen (meist ältere) Lehrer, die nun seit Jahrzehnten mit den selben Materialien und Plänen unterrichten, und sich plötzlich auf etwas neues einstellen müssen. Entweder konzipieren sie ihren Unterricht neu, oder (und was fast immer der Fall ist) unterrichten ihren auf neun Jahre ausgelegten Stoff auf die selbe Art und Weise in acht Jahren. Sie nehmen sich also weiterhin Zeit für Themen, welche nach den Abiturvorgaben weitaus geringfügiger beachtet werden müssten, als es dann geschieht. Dass dieses Zeitmanagement zu Stress führt, ist logisch. Der zweite Faktor, welcher Stress bei SchülerInnen auslöst, sind die Eltern. 80% der Eltern wollen ihre Kinder auf G9-Schulen schicken, weil sie da weniger Stress erwartet. Woher beziehen die Eltern dieses Wissen, wenn sie ihr Abitur (wenn) in neun Jahren gemacht haben? Eltern und Lehrer fügen SchülerInnen Stress zu, welcher dem tatsächlichen Stress nicht entspricht, sondern ihn dramatisiert.

Der zweite Aspekt ist, dass meines Erachtens nach das „gewonnene“ Jahr nicht zwangsweise direkt zum Studium führen soll, sondern anders genutzt werden sollte. Viele unternehmen Auslandsaufenthalte, machen ein FWJ oder entscheiden sich, einfach ein Jahr Pause einzulegen. All das führt dazu, dass das Studium, welches nach diesem Jahr angestrebt wird, besser ausgesucht und mit mehr Motivation angetreten werden kann. Hier ließen sich die „mangelnde Studierfähigkeit“ und die Bildungsqualität wieder ausgleichen. Nur fehlt dafür meist die nötige Vorbereitung durch die Schulen. Die Schulen bereiten (glücklicherweise) auf das Studium vor, aber suggerieren damit, dass an den Schulabschluss unmittelbar das Studium anknüpfen muss. Ich halte es für falsch und verfrüht, 17-Jährige mit der Entscheidung zu belasten, was ihren Lebensinhalt für das kommende Leben bestimmen soll.

Neue Ziele

Erst werden alle zu G8, jetzt gibt es wieder Schulen, welche G9 anbieten. Es ist empirisch bewiesen, dass sich die Noten nicht unterscheiden. Es ist bewiesen, dass G8- SchülerInnen zwar weniger Freizeit, aber nicht mehr Stress oder gar schwerwiegende gesundheitliche Probleme haben. Warum also noch diese Verunsicherung von Eltern

und Schülern durch ständige Impuls-Reformen, welche durch Stammtischwissen und subjektive Eindrücke initiiert werden. Die Schulbücher sind mittlerweile alle auf G8 abgestimmt und in den Schulen (weitestgehend) vorhanden: Die Rahmenbedingungen stimmen soweit. Was jetzt noch fehlt, ist die Lehrer auf den Stand zu bringen, dass sie nun den selben Stoff in weniger Zeit lehren müssen und das dies zwar eine Herausforderung, aber keine unlösbare Aufgabe ist. Die Lehrer mit dieser Aufgabe alleine zu lassen ist unklug und Ursache für die jetzige Problematik. Fortbildungen für Lehrer oder Überprüfung des Unterrichtes auf G8-Tauglichkeit sind nötig, um nicht der Bildungsqualität zu schaden.

Den Eltern muss der „Stress“ genommen werden, den sie auf ihre Kinder projizieren, indem sie G8 als eine Chance sehen und in den Lehrern kompetente Gesprächspartner vorfinden, wenn sie Angst haben, dass ihr Kind den Anforderungen des G8-Abiturs nicht gewachsen sei, aber auch die Kinder nicht durch vermeintliche Selbstverwirklichungsneigungen zu übermäßigen außerschulischen Aktivitäten drängen.

Ganztagsschulen machen G8 nicht leichter, sondern noch anstrengender. Zwar mag die Betreuung von jüngeren SchülerInnen zunächst eine Entlastung für die Eltern darstellen, ist sie im höheren Alter jedoch nur eine weitere zeitliche Begrenzung für Freizeitaktivitäten, an denen es sowieso schon mangelt. Was vielmehr wichtig ist, ist dass wenn Lehrer die außerunterrichtliche Vorbereitung in Form von Hausaufgaben intensivieren, sie auch bedenken sollten, dass sie dabei ihren SchülerInnen zur Verfügung stehen sollten. Viele SchülerInnen sehen sich mit Hausaufgaben überfordert und können von ihren Eltern in manchen Fällen keine Hilfe erhalten. Hierbei müssen Lehrer per E-Mail/SMS/etc. zur Verfügung stehen und so außerhalb des Unterrichtes ihren SchülerInnen dabei helfen, das Lernmaterial verstehen zu können.

G8 war eine hastige Entscheidung, doch ein Zurück zu G9 ein Verlust für die Bildungspolitik und eine Ohrfeige für alle die, die sich bemüht haben, das „Turbo-Abitur“ durchdacht und vorbereitet umzusetzen. Die Schulen müssen von innen und eigenständig daran arbeiten, dass sich die Haltung gegenüber G8 verändert, indem sie mehr Engagement von Eltern, Schülern und Lehrern fordern. Eltern können nicht schlechte Noten dem Unvermögen von Lehrern anhängen, SchülerInnen müssen sich bewusst sein, dass sie nicht „irgendeinen“ Abschluss machen und dieser viel Arbeit bedeutet und Lehrer müssen ihre Lehrmethoden ggf. modernisieren, um den Zeitdruck zu minimieren.

1 RP Online, 5.5.14, Detlev Hüwel und Frank Vollmer: „Bildungsexperten wollen reformiertes G8-Abitur“ 2 FAZ, 28.2.14, Tilman Sprackelsen: „Warum ist G8 gescheitert“

2 FAZ, 28.2.14, Tilman Sprackelsen: „Warum ist G8 gescheitert“

3 Besteht ein Zusammenhang zwischen der verkürzten Gymnasialzeit und Kopfschmerzen und gesundheitlichen Belastungen bei Schülern im Jugendalter? A. Milde-Busch , A. Blaschek , I. Borggräfe , R. von Kries , A. Straube , F. Heinen. Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin, Ludwig-Maximilians-Universität München, Germany. Abteilung für Pädiatrische Neurologie und Entwicklungsneurologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, Germany. Neurologische Klinik, Klinikum Großhadern, Ludwig-Maximilians-Universität München, Germany

4 FAZ, 28.2.14, Tilman Sprackelsen: „Warum ist G8 gescheitert“

5 Lämmel, Uwe: Der Turbo läuft weiter. Schulversuch zur Wiedereinführung des G9-Bildungsgangs am Gymnasium. in: Nds. 62 (2010) Nr. 10, S. 8-9